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Rezension: Lesen –Steve McCurry

Das Vorwort zu dem bemerkenswerten Fotoband hat der amerikanische Reiseschriftsteller Paul Theroux verfasst. Der Fotograf und Fotojournalist Steve McCurry, der die Bilder für das Buch realisierte, wurde vielfach ausgezeichnet und schreibt eingangs, dass seine Fotos lesender Menschen eine persönliche Hommage an den legendären Fotografen André Kertéz seien, dessen Fotografien lesender Menschen zu dessen eindringlichsten Bildern zählten. 

Bevor man das mehrseitige Vorwort von Paul Theroux studieren kann, erhält man einen Einblick in eine berühmte Bibliothek in Rio de Janeiro. Ein junges Mädchen steht auf einer Leiter, die an eine Bücherwand angelehnt ist und liest ein Buch. Lesebegeisterte sind natürlich neugierig, um welches Buch es sich handelt. Wir werden es nicht erfahren. Ein Eindruck bleibt: Lesen ist ein Ausdruck von Neugierde. 

Theroux reflektiert in seinem Vorwort das Lesen, das für ihn eine ernste Angelegenheit ist, eine Zuflucht und Erleuchtung, eine Erfahrung, die zuweilen offen zutage tritt. Er hat sogar den Eindruck, dass vom lesenden Menschen etwas Strahlendes ausgeht. Theroux lässt den Leser nicht im Ungewissen, dass er selbst ein hochgebildeter Leser ist und verrät, dass er als Kind eine Vorliebe für Abenteuerbücher entwickelte. Er erwähnt den Wettstreit "Schulbücher" gegen "alle anderen Bücher", sprich die Pflichtlektüre gegen jene Werke, die Freude schenkten.

Zu Recht weist Theroux darauf hin, dass es sich um einen ein weit verbreiteten Irrtum handele, dass die Erfahrung mit Büchern aus einem Leser einen Schriftsteller mache. Theroux liest nur selten die neuesten oder die angesagtesten Bücher, weil er nicht abgelenkt werden möchte. In seinen Augen sind die Fotografien von Steve McCurry wunderbar. Diesem Urteil schließe ich mich nach dem ausgiebigen Studium des Bildbandes an. 

Die Fotos sind über mehrere Jahrzehnte hinweg in verschiedenen Ländern aufgenommen worden. Es ist wohl wahr, die Bilder dokumentieren die Selbstvergessenheit des Lesers und schenken den Eindruck purer Freude. Jedes Foto erzählt eine Geschichte. Das gilt für die beiden Mönche, die vor dem Tempel von Bakong in Kambodscha in Bücher vertieft sind, ebenso wie für die schöne, junge Frau, die in einer Bar in Kapstadt es vorzieht, einen Roman zu lesen, anstelle sich für ihr Umfeld zu interessieren. Es gilt auch für einen auf dem Boden sitzenden Händler in Kabul, der einer Frau, die eine Burka trägt, etwas vorliest, aus einem Gedichtband wie es scheint. 

Eine betagte Asiatin, liest selbstvergessen in Lourdes in einem Gebetbuch und ebenso selbstvergessen liest ein junger Mann in Chiang Mai in Thailand in einem Buch, von dem man annimmt, dass es voller Poesie ist. Der Gesichtsausdruck des Lesenden lässt diesen Schluss zu. 

Das Foto, das am meisten berührt, zeigt im Vordergrund einen jungen Mann mit Turban, der im Rollstuhl sitzt. Er hat die Beine verloren. Daneben steht ein lachendes Kind auf Krücken, das ebenfalls keine Beine mehr hat. Der junge Mann liest dem Kind etwas aus einem Buch vor, das offenbar witzige Karikaturen enthält und beide gehen gedanklich auf Reisen. Die Lektüre lässt sie den schlimmen Zustand, in dem sie sich befinden, für Momente vergessen. Ein Buch kann Balsam für die Seele sein.

Irgendwo in Äthiopien liest ein Mädchen in ihrem Schulheft. Der Raum, in dem sie sich befindet, ist in einem desolaten Zustand. Dieses Kind wurde von der Welt alleine gelassen. Seine Hoffnung ist die Bildung. 

Alle Fotos zeigen, der Lesende vergisst sich selbst, geht auf Reisen und kommt in der Welt des Geistes an, einer Welt, die Freiheit verspricht, wenn man sich keine Denkbarrieren aufbaut. Ein Lesender ist ein Suchender, der fast immer etwas findet.

Sehr empfehlenswert 

Helga König

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